Am letzten Wochenende war ich mit meiner Frau in Łódź.
Normalerweise verwende ich ja bei den polnischen Städten immer die deutsche Bezeichnung, aber bei einer Sonderzeichendichte von 75 % mache ich dann gerne eine Ausnahme.

So unaussprechlich ist es eigentlich auch gar nicht. Das "Ł" wird wie das englische "w" ausgesprochen, also wie bei "Wow". Das "ó" ist einfach ein "u" und das "dź" wie ein weiches "tsch", etwa bei Matsch, nur eben Hessisch ausgesprochen, wodurch ich als alter Hesse natürlich ein paar Vorteile habe. Der Name heißt übersetzt Boot, es ist aber nicht genau geklärt, wie er entstanden ist. Hätten wir das also geklärt.
Kommen wir zur Geschichte der Stadt,
ganz kurz viel zu lang erzählt. Im Mittelalter gegründet, aber unter ferner liefen, fing es mit der Industrialisierung erst so richtig an. Und wie. Gab es 1800 nur 190 Einwohner, waren es um 1900 schon 314.000 Menschen.

Łódź war das Manchester des Ostens, ein Zentrum der Textilindustrie. Quadratkilometer voller Fabriken und Arbeitersiedlungen im roten Backstein, dagobertduckige Fabrikanten und Einwanderungsbewegungen aus ganz Europa. Im Sozialismus wurde die eigentliche, multikulturelle Vergangenheit der Stadt negiert und Łódź zur Musterarbeiterstadt erklärt. In den Fabriken ging es also weiter, aber die Bedingungen waren alles andere als gut. Ablenkung bot nur die Filmfabrik: Die Filmhochschulen und die Trickfilmstudios der Stadt sind die besten in ganz Polen, Roman Polański und Andrzej Wajda dürften die international bekanntesten Absolventen sein.
Und dann kam die Wende und damit das Ende von Łódź.

Keine andere Stadt Polens hatte so große Probleme, die Arbeitslosigkeit stieg auf unfassbare Zahlen, eine Fabrik nach der anderen ging pleite, die Fabriken und Fabrikantenpaläste verfielen, in Polen hatte die Stadt den Ruf, die Hauptstadt der Menele zu sein. Menel ist ein etwas liebevolleres Wort, entspricht aber ungefähr dem deutschen Penner. Liebevoll war aber hier aber erst mal gar nichts, sondern hart, arm und perspektivlos. Wer konnte, floh aus der Stadt. Wer blieb, trank.
Was also machen in dieser Situation?

In den letzten Jahren spielte Identitätspolitik und eine Anküpfung an die glorreiche Vergangenheit eine große Rolle, etwa mit dem Festival der vier Kulturen (polnisch, deutsch, russisch und jüdisch). Auch wirtschaftlich sieht es viel besser aus, mit wohldurchdachten Investitionen und Plänen. Inzwischen sind neben der Filmhochschule viele IT-Startups tätig, insbesondere im Bereich Computerspiele, außerdem weitere Zukunftstechnologien, aber auch Mode, Design und Kunst. Ich war das erste Mal vor etwa zehn Jahren in Łódź und konnte letztes und dieses Jahr meinen Augen nicht trauen. Kein Wunder, dass die Stadtpräsidentin bei den letzten Kommunalwahlen mehr als 70 % erhalten hat. Was besonders interessant und schön ist: Łódź ist wieder eine multikulturelle Stadt geworden, mit sehr vielen Russen, Ukrainern und Weißrussen, aber auch sehr vielen Amerikanern, die hier eine Hipsterheimat gefunden haben.
Kommen wir zu den Fotos. Anfangen möchte ich mit den Murals, die beim Thema Identitätspolitik eine große Rolle gespielt haben und spielen. Mehr als 700 gibt es, anfangs noch von Nachwuchskünstlern der heimischen Kunstakademie, inzwischen sind nicht nur die besten polnischen Künstler vertreten, sondern auch viele internationale Stars. Es gibt Stadtführer, die sich auf die Murals spezialisieren und Touristen, die eigens deswegen aus der ganzen Welt anreisen. Bei der Touriinfo bekommt man eine Karte mit den 170 besten Murals.
Das erste Mural ist meiner Meinung nach jetzt nicht unbedingt das künstlerisch gelungenste, zeigt aber 31 wichtige Persönlichkeiten der Stadtgeschichte und somit diese Identitätsgeschichte, die für die Stadt ja so wichtig ist. Krzysztof Jaśkiewicz heißt der Künstler, "Zasłużeni dla Łodzi" (schwer zu übersetzen: Sich um Łódź verdient gemacht Habende).
#1
An einem mehr als halb verfallenen, aber bewohnten Mietshaus das Werk "Łasice kradną jajka" (Wiesel stehlen Eier) des belgischen Künstlers Roa.
#2
Hier ist ein Übertrag der beiden Gemälde "Narodziny dnia" (Die Geburt des Tages) und "Ptaki w raju" (Die Vögel des Paradieses) des Künstlers Wojciech Siudmak auf die Fassade zu sehen.
#3
Ein Gemeinschaftswerk von Zwillingen aus Brasilien mit dem Künstlernamen Os Gemeos und dem Spanier Aryza, das aber keinen Namen hat.
#4
Hinter der Spiegelmosaikfassade steckt eine traurige Geschichte: Die Künstlerin Joanna Rajkowska wollte mit der "Pasaż Roży" (Passage von Róża) zeigen, wie ihre Tochter die Welt sehen muss. Sie hatte einen Tumor in der Netzhaut des Auges.
#5
Das Mural heißt "After the call" und stammt vom russischen Künstler Morika.
#6
Eines der bekanntesten Murals von Łódź und sicher auch eines der schönsten: "Primavera" von Przemysław Blejzyk, mit dem Künstlernamen Sainer.
#7
Das titellose Mural von oben noch einmal aus anderer Perspektive und ein bisschen später am Abend.
#8
Das recht kleine Mural der polnisch-kanadischen Künstlerin Anya Mielniczek ist bei der OFF Piotrkowska zu finden, einem Kunst- und Clubort. Es heißt "Szlachetne gatunki" (Wertvolle Gattungen) und spielt auf die Pilzsammelleidenschaft der Polen an.
#9
Das vorerst letzte Mural trägt den Titel "Murcia" und stammt vom spanischen Künstler Carlos Callizo Gutierrez. Es kam anlässlich des Jubiläums der Städtepartnerschaft mit der gleichnamigen Stadt in Spanien an die Wand und gefällt mir ganz besonders gut.
#10
Ich finde es ziemlich schwer, Murals gut zu fotografieren.

Immer ist etwas im Weg, das Licht kommt oft aus der falschen Richtung und man weiß nicht so recht, was man abschneiden soll. Hinzu kommen oft unvermeidbare stürzende Linien, die man nicht immer hinbekommt. Wollt Ihr trotzdem noch mehr sehen?
